Warum brauchen wir Marktforschung, Herr Sonntag?
Alle Destinationen und Reiseveranstalter haben gelernt, auf Fakten zu setzen. Und bei allen sind die Anforderungen an die Entscheider gestiegen. Je mehr man also über den Markt weiß, je mehr Informationen man hat, desto besser kann man entscheiden und eine Destination steuern.
Die Zahl der Studien, die man zurate ziehen kann, ist stark gestiegen, oder?
Ja, denn auch die Möglichkeiten haben zugenommen. Früher war Marktforschung sehr teuer. Heute gibt es technische Mittel, wie zum Beispiel Online-Befragungen und Panels. Man kann heute also mehr und das auch noch günstiger machen. Das heißt aber nicht, dass die Studien automatisch auch eine gute Qualität haben.
Woran erkennt man dann eine seriöse Studie?
Zahlen, die von staatlichen Stellen veröffentlicht werden, also der Agentur für Arbeit, dem Statistischen Bundesamt oder von Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Union, sind so neutral wie möglich. Bei den anderen sollte man prüfen, woher sie stammen, wer die Studie in Auftrag gegeben und ob eine neutrale Stelle sie umgesetzt hat. Wenn der Herausgeber Teil der Branche oder eine Lobbyorganisation ist, wird’s schon schwierig. Veröffentlicht beispielsweise der Kreuzfahrtverband CLIA eine Studie, die sich um die Klimaneutralität von Kreuzfahrten dreht, wäre ich vorsichtig. Es ist ohnehin hilfreich, immer mit einer gewissen Grundskepsis an Daten heranzugehen.
Welche Kriterien gibt es außerdem?
Die Methodik sollte angemessen und auch erklärt sein. Je transparenter gezeigt wird, wie die Studie entstanden ist, desto seriöser ist sie meistens. Wenn eine touristische Plattform ein, zwei Fragen an ihre Nutzer stellt, ist das zum Beispiel keine angemessene Methode. Oft sind es Schnellschüsse mit Fragen, die nichts Aussagekräftiges liefern. Trotzdem werden sie oft in Newslettern zitiert und von Medien dankbar aufgenommen. Allerdings ist die Halbwertszeit solcher „Nachrichten“ deutlich gesunken, deshalb tut das aus meiner Sicht niemandem weh.
Was ist denn eine angemessene Methode?
Da spielen einige Kriterien eine Rolle, wie zum Beispiel die Stichprobe. Wie ist sie gezogen? Ist sie repräsentativ für die Bevölkerung? Studien müssen außerdem objektiv sein und reliabel, also verlässlich. Das heißt, wenn man eine Befragung mit denselben Menschen wiederholen würde, käme dasselbe Ergebnis heraus. Und es gibt das Kriterium der Validität: Wird also durch die Messung oder Befragung auch tatsächlich das geliefert, was untersucht werden sollte?
Klingt ziemlich kompliziert.
Ja, es ist wichtig, Leute zu haben, die sich damit auskennen. Außerdem genügt es nicht, nur eine Studie heranzuziehen, sie kann nie alle Informationen liefern, die ich für eine Entscheidung brauche. Wenn zum Beispiel die Reiseanalyse sagt, wie viele Menschen einen Wellnessurlaub planen und woher sie kommen, weiß ich aber noch nicht, was die Leute in einem Wellnesshotel erwarten. Dazu ist eine andere Untersuchung nötig.
Man braucht also immer mehrere Studien mit verschiedenen Fragestellungen?
Eine Studie kann nur ein Teil in einem größeren Puzzle sein. Früher hatte das Puzzle oft nur wenige Teile: die Reiseanalyse, die amtliche Statistik und vielleicht eine Gästebefragung. Heute umfasst es 20 und mehr Teile. Die Branche ist aber auch professioneller geworden, und in vielen Destinationen gibt es kompetentes Personal, das dieses Puzzle betrachtet.
Doch auch wenn Studien seriös sind, werden sie manchmal ganz unterschiedlich interpretiert. Wie kommt das?
Man sucht sich eben das aus, was die eigene Arbeit in gutem Licht erscheinen lässt. Das gilt auch für die Reiseanalyse: Die Interpretation ist Sache des Kunden. Er kann es lesen, wie er will, und betrachtet seinen jeweiligen Bereich – der Internationale Bustouristik-Verband RDA schaut sich die Busreisen an, der Verband Internet Reisevertrieb VIR den digitalen Bereich und der Deutsche Reiseverband DRV die Reisebüros. Was sie herausziehen, kann widersprüchlich zueinander klingen. Deshalb ist es nicht falsch.
Gibt es denn Themenbereiche, die man generell schwer erforschen kann?
Je komplexer oder sensibler ein Thema ist, desto mehr Mühe macht es. Da muss man die Fragestellung sehr genau prüfen. Wenn es zum Beispiel um Nachhaltigkeit geht, gibt es den Effekt der sozialen Erwünschtheit. Deshalb muss es dazu mehr als nur eine Frage geben und auch die Möglichkeit, bei der Antwort nicht nur „ja“ oder „nein“ anzukreuzen, sondern abzustufen. Auch Ergebnisse zu Einstellungen sind besser aufgestellt, wenn man nicht nur einmal danach fragt, sondern zum Beispiel nachhakt, ob sie bei der letzten Reiseentscheidung wichtig waren. Man muss ein Ergebnis über weitere Fragen verifizieren.
Haben Sie sich schon über Studien geärgert?
Nein, die vorhin genannten Schnellschüsse sehe ich mindestens einmal im Monat, aber die vergesse ich gleich wieder. Schwierig sind auch „Was wäre wenn?“-Fragen, als man zum Beispiel vor der Fußball-EM wissen wollte, ob die Menschen deshalb ihr Reiseverhalten änderten. Bis zu 30 Prozent haben geantwortet, dass sie im Urlaub etwas anderes planen würden. Im Jahr darauf hat sich aber gezeigt, dass das nicht der Fall war. Auch kurz nach einem Terroranschlag sagen viele, dass sie nicht in Urlaub fahren, tun es aber später dann doch. Recht verlässlich ist dagegen, wenn jemand im Mai darauf antwortet, ob er für diesen Sommer eine Reise plant und wohin sie führt.
Über Befragungen hinaus lassen sich heute viele weitere Quellen nutzen.
Ja, zum Beispiel Handydaten, Social-Media-Analysen oder auch Sensoren, die messen, wie viele Autos auf einem Parkplatz stehen oder Radfahrer vorbeifahren. Dadurch lassen sich neue Sachverhalte erkennen und erforschen. Auch der TrustScore, der aus den Online-Bewertungen gewonnen wird, ist ein tolles Instrument: Er liefert Reiseveranstaltern, Hoteliers und Destinationen Anhaltspunkte zur Qualität und sie können Probleme schnell erkennen. Aber weniger ist aus meiner Sicht oft mehr.
Warum?
Alle diese Tools haben ihren Wert, aber auch ihren Preis. Außerdem gibt es die Tendenz, Daten zu horten. Aber die Kompetenzen und Kapazitäten, sie aufzuarbeiten, sind begrenzt. Deshalb wäre es gut, sich vorher aus seiner Strategie abzuleiten, welche Bereiche wichtig sind und wofür ich die Daten brauche.
Auf der Seite des NIT erfährt man mehr zum Werdegang des studierten Geografen, der seit über 20 Jahren für das Institut arbeitet.
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