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{{postCount}} Neue Chancen in neuen Arbeitswelten
© Iván Bravo

Neue Chancen in neuen Arbeitswelten

Wer bei New Work an Homeoffice denkt und reflexartig abwinkt, verpasst was: Die modernen Formen des Arbeitens bieten Chancen auch für den Tourismus – von Fachkräftegewinnung bis Saisonverlängerung

Quick Wins

Neue Arbeit:
New Work versucht, Bedürfnisse von Menschen und Anforderungen an die Wirtschaft unter einen Hut zu bringen.

Chancen:
New Work hilft, Mitarbeitende zu gewinnen und zu halten. Individuelle Förderung schafft Motivation und Produktivität.

Zielgruppen:
New Work erschließt dem Tourismus neue Zielgruppen. Überall, wo Arbeit und Freizeit kombiniert werden, stecken Geschäftsideen drin.

Die Welt verändert sich. Die Gesellschaft ist im Wandel, die digitale Transformation schreitet fort. Der rasante technologische Fortschritt stellt ständig neue Anforderungen an Industrie und Wirtschaft. Das verändert auch die Arbeitswelt. Gestern Gelerntes kann übermorgen schon veraltet sein. Die Aufgaben werden komplexer, zeitliche und räumliche Grenzen der Arbeit verschwimmen, die Verunsicherung wächst. Zudem stehen immer spezielleren Jobs immer weniger passende Bewerberinnen und Bewerber gegenüber.

Rezepte, um menschliche Bedürfnisse und wirtschaftliche Anforderungen unter einen Hut zu bringen, finden sich unter der Überschrift New Work. „Wie können Menschen in einer vernetzten und datengetriebenen Welt sinnvoll arbeiten?“ und „Wie schaffen Unternehmen flexible und adaptive Strukturen?“ heißen die Kernfragen einer Studie des Zukunftsinstituts zum Megatrend New Work. Dieser Trend ist nach Einschätzung der Verfasser Harry Gatterer und Stefan Tewes so wichtig und langlebig, dass es sich für jedes Unternehmen lohnt, sich damit zu beschäftigen. Denn wer New Work kann, bekommt und behält bessere und motiviertere Mitarbeitende, hat die Nase vorn bei der Erschließung neuer Märkte und glänzt mit Produktivität und Kreativität.

Erst die Mitarbeitenden, dann der Gast

Dass Empowerment, Agilität oder Werteorientierung nicht nur graue Theorie sind, zeigt ein Blick nach Heidelberg. Was die Wissenschaft als New Leadership bezeichnet, wird im Hotel Europäischer Hof gelebt.

Unsere Unternehmensphilosophie stellt die Mitarbeitenden an erste Stelle, den Gast an zweite – und das Unternehmen an letzte. Das empfinden manche als radikal.

Dr. Caroline von Kretschmann, Geschäftsführerin Hotel Europäischer Hof

Nachvollziehbar – wer schickt schon einen Vorstandsvorsitzenden weg, bloß weil der seinen Frust über Flugverspätung und Gepäckverlust so am Hotelpersonal auslässt, dass dort Tränen fließen? „Es wurde auch gedroht, aber man muss Haltung zeigen, auch wenn damit ökonomische Nachteile verbunden sind“, erzählt Caroline von Kretschmann. Doch bei allem Verständnis für den verärgerten Gast, das Personal gehe vor. So werde auch, wenn in der Küche zwei krank sind, das Buchungssystem geschlossen, damit das Restteam nicht in Arbeit untergeht. Das kostet Umsatz, aber es bringt zufriedene, engagierte und loyale Mitarbeitende.

Visionen, Kultur, Werte: In Leitbildern findet sich viel Wohlklingendes. Doch „Menschen spüren sehr genau, ob etwas nur in Hochglanzbroschüren steht – oder wirklich gelebt wird. Sie wollen gesehen, wertgeschätzt und gefördert werden“, sagt Caroline von Kretschmann. Das versucht sie mit einer Vision umzusetzen, die das gesamte 165-köpfige Team einbindet. „Wir wollen das herzlichste Hotel Deutschlands werden und dafür zählt jeder Einzelne. Wenn einer träumt, bleibt es ein Traum. Wenn viele träumen, wird es Wirklichkeit“, sagt sie. Auch der Spüler, der für blitzsaubere Teller steht, und das Zimmermädchen, das sein Reich mit Liebe pflegt. Ihre Wertschätzung kommuniziert von Kretschmann oft und öffentlich. Auf Social Media, insbesondere in der Videoreihe „Hotel-Wiki“, macht sie die Arbeit von jeder und jedem sichtbar. Für ihre Tiktok-Videos, in denen sie mit Auszubildenden durchs Hotel tanzt oder das gelobte Outfit ihrer Mutter prämiert, wird sie gleichermaßen belächelt, beneidet und gefeiert.

Arbeit und der Sinn des Ganzen

Work-Life-Balance ist vielfach in Verruf geraten als Anspruchshaltung einer verwöhnten Generation. Dahinter steckt aber auch die legitime Suche nach Sinn und Orientierung in einem Job, der viele Lebensstunden kostet. Caroline von Kretschmann setzt eher auf Arbeit-Berufsleben-Balance. Arbeit habe einen hohen Wert als Sinnstifter und für den Wunsch, einen Beitrag zu einem großen Ganzen zu leisten. Balance sei trotzdem nötig, also ordentliche Pausen, keine Überforderung, keine schwierigen Schichtwechsel.

Homeoffice gibt es im Europäischen Hof nicht –  obwohl es an manchen Stellen möglich wäre. „Dabei geht es auch um erlebte Gerechtigkeit im Team. Für echte Gastfreundschaft müssen wir präsent sein – und wir wollen keine Gruppe systematisch privilegieren“, sagt von Kretschmann. Sie wie ihre über 80-jährigen Eltern, die beide noch zum Team zählen, sind täglich präsent und ansprechbar. Harmonie pur herrsche freilich auch hier nicht, denn „es menschelt überall“, weiß die Chefin. Konflikte diskutieren die Heidelberger im Team, falls nötig moderiert von einer Führungskraft. Die hört sich beide Seiten an, versucht, Verständnis für die jeweils andere zu wecken, und entscheidet zuletzt, wie es gemacht wird. Das Geheimnis des Erfolgs sieht Caroline von Kretschmann darin, dass niemand sich schlecht fühlt. Verlieren – das weiß die ehemalige Profi-Hockeyspielerin – sei Chance und Motivation, besser zu werden.

Mensch und Technik als Teamplayer

Wir können nur zusammenarbeiten, wenn wir der Technologie den Nimbus des Künstlichen nehmen und sie zu einem Teil unseres Selbst machen

Zukunftsinstitut, „13 Trends für die Zukunft der Arbeit“

Ein hübsches Beispiel für diesen Rat der Zukunftsforscher zum Miteinander von Mensch und Technik findet sich in der Cafeteria des Nationalparkzentrums im Schwarzwald. Dort übernimmt ein Roboter die Servier- und Abräumarbeiten und kommuniziert in fast unfallfreiem Schwäbisch. Den Gästen macht das Spaß und dem Team nimmt es Arbeit ab.

Zeit, die einem anderen New-Work-Trend zugutekommt: Die Sehnsucht nach menschlichen Kontakten in einer automatisierten Welt will bedient werden. Gerade im Tourismus darf dieses Bedürfnis nicht unterschätzt werden. Resonanzerfahrungen, die viele Gäste im Urlaub suchen, sind ohne menschlichen Austausch kaum zu haben.

Und wo lässt sich dieses Bedürfnis leichter bedienen als in der Gastronomie? Die Studie des Zukunftsinstituts beschreibt an dieser Stelle, wie ein lokales Restaurant diese „Human-to-Human-Experience“ optimieren könnte, indem es auf die persönliche Bindung zu seinen Gästen setzt: Alle Servicekräfte werden geschult, nicht nur über das Menü, sondern auch, um über die Geschichten hinter den Gerichten zu informieren. So bekommen Gäste zum Essen eine Erzählung serviert.

Neue Zielgruppen füllen die Nebensaison

New Work birgt aber auch Chancen für die Entwicklung neuer touristischer Angebote. Mit Workation, Coworking oder Bleisure, also der Verbindung von Arbeit und Freizeit, lassen sich neue Zielgruppen gewinnen und manche Nebensaison sinnvoll füllen. Damit haben sich Brandenburgs Tourismusfachleute ausführlich beschäftigt und einen ganzen Strauß von Angeboten etabliert, vernetzt und vermarktet. Andreas Zimmer, Bereichsleiter Destinationsmanagement beim Tourismus-Marketing Brandenburg, erzählt, wie es dazu kam. 

„Viele Tourismusunternehmen, die zurzeit in Brandenburg gründen, arbeiten mit New-Work-Reisetrends, denn unsere Lage zwischen den Metropolregionen und mit Berlin in der Mitte bietet dafür einen sehr guten Markt“, sagt er. Vorreiter war eine Gruppe namens Coconat, die in einem alten Gewerkschaftsheim Coworking anbot, und zwar in einer Form, die an die Dichterstuben und Künstlerklausen erinnert, die mancherorts Stipendiaten für ein Projekt zur Verfügung gestellt werden. Inzwischen ist Coconat auf einen Gutshof umgezogen und hat sich gemausert zu einer Art Gründerzentrum. Von denen, die kamen, um ein Projekt zu entwickeln, blieben schon zwei Dutzend da, um es vor Ort umzusetzen – Kreative, IT-Fachleute, sogar ein Safthersteller.

Bildmontage Coconat© TMB-Fotoarchiv/Steffen Lehmann; TMB-Fotoarchiv/Saskia Rehhahn
Arbeiten im Grünen: In Brandenburg wird das Nützliche mit dem Angenehmen immer häufiger erfolgreich kombiniert, wie hier im Workation Retreat Coconat

Hat das mit Tourismus in seinem ursprünglichen Sinn überhaupt noch etwas zu tun? Die Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) versteht darunter alle Aktivitäten von Personen, die an Orte außerhalb ihrer gewohnten Umgebung reisen, um sich dort zu Freizeit-, Geschäfts- oder bestimmten anderen Zwecken aufzuhalten. Das passt somit zu Coworking ebenso gut wie zu Workation (Work und Vacation) und Bleisure (Business und Leisure).

Gut zu Wissen: Die Idee hinter New Work

Bei New Work geht es um ein neues Verständnis von Arbeit. Dahinter steht die Überzeugung, dass bei der Arbeit der Mensch im Vordergrund stehen sollte. Der österreichisch-amerikanische Sozialphilosoph Frithjof Bergmann prägte den Begriff New Work bereits in den 1980er-Jahren. Er war der Meinung, dass Menschen Formen von Arbeit brauchen, bei denen sie sich selbstbestimmt verwirklichen und, unterstützt von Technologie und praktizierter Gemeinschaft, weiterentwickeln können. Bei Bergmann diente Arbeit nicht nur dem Überleben, sondern auch der individuellen Entfaltung. Ihm ging es darum, Tätigkeiten so zu strukturieren, dass Menschen sie als sinnvoll ansehen und auch wirklich erledigen wollen.
Der Mensch im Mittelpunkt: Selbstständigkeit, Teilhabe und Freiheit sind die Säulen von Bergmanns „Neuer Arbeit“. Sie gelten heute noch als zentrale Bestandteile von New Work. Der technologische Fortschritt mit Digitalisierung, Globalisierung und KI hat die Ausgestaltung von New Work differenziert und erweitert. Grundsätzliches wie Teamwork, Sinnhaftigkeit oder Selbstverwirklichung ist geblieben. Durch den Wandel vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt sind Elemente von New Work ein wichtiger Faktor beim Werben um Fachkräfte.

Geschäftsreise mit Erholungsfaktor

„Was früher klar Geschäftsreisetourismus war, hat sich – nicht nur durch Corona –  verändert“, sagt Zimmer. Firmen suchten für Konferenzen und Tagungen nach besonderen Orten, vor allem, wenn es um Innovationen gehe. Auch für Teambuilding und Kick-offs eigneten die sich besser als graue Tagungshotels. „Es müssen weder Welt- noch Naturwunder vor der Tür liegen, aber es muss so schön sein, dass man bei und nach der Arbeit auch einen Erholungsfaktor hat“, beschreibt Zimmer. Nach seiner Beobachtung haben sich auch die Geschäftsreisenden verändert. Manche verlängern ihren Aufenthalt auf eigene Rechnung, andere bringen Kinder zur Tagung mit oder den Partner für einen Kurzurlaub im Anschluss.

Ganz auf Incentives und Teamevents spezialisiert hat sich das 360-Grad-Resort Heidesee, ein eigens konzipiertes Hotel der Firma Teamgeist. Dank flexibler Zuschnitte kann man hier modulare Bereiche schaffen, wo Teammitglieder in Einzelzimmern schlafen, aber Freizeit- und Arbeitsbereich teilen.  

Auf dem Reiter- und Erlebnisbauernhof Groß Briesen können Eltern(teile) arbeiten, während ihre Kinder betreut Ferien machen. „Das könnte ein wachsendes Segment sein, wenn man sieht, dass ein Schulkind rund 80 Tage im Jahr frei hat, die arbeitenden Eltern aber nur 30 und immer mehr Arbeitgeber Workation genehmigen“, sagt Zimmer, der auch als Professor für Tourismusmanagement an der Internationalen Hochschule lehrt.

Eher ein Nischenprodukt, aber auch Beweis für die Angebotsbreite, ist der Musikbahnhof Annahütte. In dem alten Bahnhof mitten im Nirgendwo können Musikergruppen aller Art tage- oder wochenlang wohnen und ungestört komponieren, proben oder aufnehmen. Das bringt keine Riesengewinne, aber es trägt sich und begeistert seine Macher ebenso wie deren Zielgruppe.

Während die Brandenburger Tourismusanbieter schon bei der nächsten Stufe von Coworking, Bleisure und Workation sind, hat Professor Zimmer auch die andere Seite im Blick. New Work lohne auch für die Beschäftigten im Tourismus: Zeigten doch Untersuchungen, dass Hoteliers, die sich auf ihre Mitarbeitenden einlassen, weniger Fluktuation, Krankenstand und Nachwuchssorgen haben.

Man muss zuhören, was die Menschen wollen. Wer Mitarbeiter wie Gäste individuell betrachtet und passgenaue Angebote macht, kann sie gewinnen und halten.

Prof. Dr. Andreas Zimmer, Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH

Gut zu Wissen: Neue Arbeiten im Haus des Tourismus

Mehr über Workation erfahren?

Hinter dem QR-Code geht es zu einer Themenseite der TMB Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH. Dort gibt es Hintergründe, Studien und Informationen zum Projekt „New Work Experience im brandenburgischen Tourismus“.

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